Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ist das zentrale Organ zur Durchsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Er prüft Beschwerden von Einzelpersonen, Staaten oder Organisationen, wenn diese geltend machen, dass ihre in der EMRK garantierten Rechte verletzt wurden.

Im Folgenden werden die möglichen Verfahren, ihre Inhalte, der Ablauf sowie die zeitlichen Aspekte erläutert:


1. Verfahren vor dem EGMR

a) Individualbeschwerde (Art. 34 EMRK)

Mit der Individualbeschwerde können Einzelpersonen, Personengruppen oder Organisationen geltend machen, dass ein Mitgliedstaat der EMRK ihre Rechte verletzt hat.

Inhalt:

  • Die Verletzung eines oder mehrerer Rechte aus der EMRK, z. B.:
    • Recht auf Leben (Art. 2): Etwa bei Fällen von übermäßiger Gewaltanwendung durch staatliche Organe.
    • Verbot der Folter (Art. 3): Z. B. bei Misshandlungen in Gefängnissen.
    • Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6): Z. B. bei überlanger Verfahrensdauer vor nationalen Gerichten.
    • Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8): Etwa bei unrechtmäßiger Überwachung.

Beispiele und Rechtsprechung:

  • Az: 44774/98 – K.H. und andere gegen Slowakei: Verletzung von Art. 8 EMRK durch die unrechtmäßige Verweigerung des Zugangs zu medizinischen Akten.
  • Az: 58243/00 – Kudła gegen Polen: Verletzung von Art. 6 EMRK wegen überlanger Verfahrensdauer in Polen.

b) Staatenbeschwerde (Art. 33 EMRK)

Mit der Staatenbeschwerde kann ein Mitgliedstaat einen anderen Mitgliedstaat wegen Verletzung der EMRK vor dem EGMR verklagen.

Inhalt:

  • Staatenbeschwerden sind selten und oft politisch motiviert.
  • Typische Themen: Menschenrechtsverletzungen in Konfliktgebieten, Diskriminierung oder systematische Missstände.

Beispiele und Rechtsprechung:

  • Az: 14038/88 – Irland gegen Vereinigtes Königreich: Irland warf Großbritannien vor, gegen das Folterverbot (Art. 3 EMRK) im Umgang mit IRA-Häftlingen verstoßen zu haben.
  • Az: 8019/77 – Zypern gegen Türkei: Klage Zyperns wegen Menschenrechtsverletzungen im Zuge der türkischen Besetzung Nordzyperns.

c) Beratungsverfahren (Protokoll Nr. 16)

Höchstgerichte eines Mitgliedstaats können den EGMR um eine unverbindliche Stellungnahme zu Rechtsfragen bitten, die die Auslegung oder Anwendung der EMRK betreffen.

Inhalt:

  • Ziel ist es, die einheitliche Auslegung der EMRK zu fördern.
  • Beratungen betreffen oft komplexe, grundsätzliche Fragen.

Beispiel:

  • Az: P16-2021-001 – Frankreich: Stellungnahme zur Vereinbarkeit von Leihmutterschaft mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK).

d) Interventionsmöglichkeiten

  • Drittstaaten oder Organisationen wie der Europarat oder die Europäische Kommission können als Dritte in Verfahren intervenieren, um Rechtsstandpunkte einzubringen.

2. Ablauf eines Verfahrens vor dem EGMR

Phase 1: Einreichung der Beschwerde

  • Voraussetzungen:
    1. Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs: Alle verfügbaren Rechtsmittel im Heimatland müssen ausgeschöpft worden sein.
    2. Beschwerdefrist von 4 Monaten (nach Protokoll Nr. 15, früher 6 Monate): Die Beschwerde muss spätestens 4 Monate nach der letztinstanzlichen Entscheidung eingereicht werden.
    3. Zulässigkeitskriterien:
      • Die Beschwerde darf nicht anonym sein.
      • Es muss ein persönlicher, individueller Schaden vorliegen.
      • Keine offensichtlich unbegründeten oder missbräuchlichen Beschwerden.

Dauer: Die Einreichung erfolgt schriftlich und dauert i. d. R. 1–2 Wochen, bis der Eingang bestätigt wird.


Phase 2: Vorprüfung und Zulässigkeit

  • Vorprüfung durch einen Einzelrichter oder ein Kammergremium:
    • Offensichtlich unzulässige Beschwerden werden abgelehnt.
    • Zulässige Beschwerden werden zur weiteren Prüfung angenommen.

Dauer: 6–12 Monate.


Phase 3: Prüfung und Hauptverfahren

  1. Schriftliches Verfahren:
    • Einreichung von Schriftsätzen durch die Parteien.
    • Gegenseitiger Austausch der Argumente.
  2. Mündliche Verhandlung (optional):
    • Nur in komplexen Fällen oder bei hoher Bedeutung.
    • Öffentlich, mit Vertretung durch Anwälte und Dolmetscher.

Dauer: 1–3 Jahre, je nach Fallkomplexität.


Phase 4: Entscheidung

  • Urteil der Kammer (7 Richter):
    • Bindend für den betroffenen Mitgliedstaat.
    • Der Staat ist verpflichtet, das Urteil umzusetzen (z. B. Zahlung von Schadensersatz, Gesetzesänderungen).
  • Große Kammer (17 Richter):
    • Zuständig bei grundsätzlichen Fragen oder auf Antrag einer Partei nach dem Kammerurteil.

Dauer: Die Entscheidungsfindung kann 1–2 Jahre dauern.


Phase 5: Umsetzung

  • Überwachung durch das Ministerkomitee des Europarats.
  • Ziel: Sicherstellung, dass der Staat das Urteil umsetzt.

Dauer: Variiert stark – Monate bis Jahre, je nach Umfang der Maßnahmen.


3. Zeitlicher Umfang der Verfahren

  • Gesamtdauer: Ein Verfahren kann von der Einreichung bis zur Umsetzung 5–7 Jahre dauern.
  • Faktoren für Verzögerungen:
    • Komplexität des Falls.
    • Arbeitsbelastung des EGMR.
    • Verzögerungen bei der Umsetzung durch den Mitgliedstaat.

4. Rolle der Europarechtler

a) Beratung und Vertretung

  • Unterstützung von Mandanten bei der Einreichung der Beschwerde.
  • Prüfung der Zulässigkeitskriterien.
  • Vertretung vor dem EGMR durch Schriftsätze und in mündlichen Verhandlungen.

b) Gutachterliche Tätigkeit

  • Analyse von EMRK-Verstößen und Erstellung von Gutachten für Gerichte oder Organisationen.

c) Unterstützung bei der Umsetzung

  • Beratung von Staaten bei der Reform von Gesetzen und Verwaltungspraxis zur Umsetzung von EGMR-Urteilen.

 

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